Der Europäische Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 19.12.2013, C-209/12 (Endress gg. Allianz Lebensversicherungs-AG) entschieden, dass eine fehlerhafte Belehrung des Versicherungsnehmers über das Rücktrittsrecht zu einem unbefristeten Rücktrittsrecht führt. Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes bindet alle Gerichte der Mitgliedstaaten sohin auch Österreich und hat daher in Entsprechung der Entscheidung des EuGH auch der Österreichische Oberste Gerichtshof mit seiner Entscheidung vom 2. September 2015, 7 Ob 107/15 h klargestellt, dass einem Versicherungsnehmer aufgrund einer fehlerhaften Belehrung über sein Rücktrittsrecht ein unbefristetes Rücktrittsrecht zusteht.
Durch die Entscheidung des Deutschen Bundesgerichtshofes wurde klargestellt, dass auch bei bereits gekündigten Verträgen das Rücktrittsrecht besteht (IVZR76/11, IVZR52/12). Die Beurteilung der wesentlichen Frage, ob eine unrichtige, falsche und/oder unvollständige Rücktrittsbelehrung vorliegt, kann nur auf Grundlage der Versicherungsunterlagen, insbesondere Versicherungspolizze, Antrag, Versicherungsbedingungen und allfällige zusätzlich dem Versicherungsnehmer bei Vertragsabschluss ausgehändigten Informations- und Belehrungsschreiben beurteilt werden.
Für den Rücktritt infolge unrichtiger Rücktrittsbelehrung sind jene Versicherungsverträge bedeutsam, die zwischen dem 1.1.1997 und 31.12.2015 abgeschlossen wurden.
Der Rücktritt infolge fehlerhafter Rücktrittsbelehrung durch die Versicherungsunternehmen kann in einer Mehrzahl der Fälle dem Versicherungsnehmer finanzielle Vorteile bringen, da nicht selten die Höhe des Rückkaufswertes der Versicherungsverträge nicht einmal die Höhe der einbezahlten Prämien erreicht. Dem zu Folge konnten bereits zahlreiche Fälle im Sinne der Konsumenten positiv erledigt werden.
Unsere Kanzlei konnte bereits in mehreren Fällen im Sinne der Versicherungsnehmer sowohl im Vergleichswege als auch im Gerichtswege deren Ansprüche erfolgreich durchsetzen.
Seit 1.1.2019 hat der österreichische Gesetzgeber mit einer interessengeleiteten Novelle zum VersVG die Rechte von Versicherungsnehmern bei fehlerhaften Polizzen gegenüber der bisherigen Rechtslage erheblich eingeschränkt. Je nach dem Zeitpunkt des Rücktritts werden nun drei Fallgruppen unterschieden:
- Rücktritt innerhalb eines Jahres ab Vertragsabschluss:der Versicherungsnehmer erhält die einbezahlte Prämie ohne Abzüge zurück. Es gibt demnach – und das ist positiv – keinen Abzug für die Absicherung des Todesfallrisikos oder für die Absicherung zusätzlicher Risiken. Hinsichtlich allfälliger Zinsen auf die geleisteten Prämienzahlungen ist im Gesetzestext nichts vorgesehen, weshalb man wohl auf die allgemeine Verzinsung nach ABGB zurückgreifen wird können.
- Rücktritt ab dem zweiten bis zum Ablauf des fünften Jahres nach Vertragsabschluss: Hier erhält der Versicherungsnehmer den Rückkaufswert ohne Abzug der Abschlusskosten und ohne Abzug nach § 176 Abs 4 VersVG. Eine gravierende Verschlechterung stellt aber der Umstand dar, dass der Versicherungsnehmer sich die Versicherungssteuer und Veranlagungsverluste sowiediverse andere Kostenbelastungen anrechnen lassen muss. Offen bleibt, wie Veranlagungsverluste nachvollziehbar abzurechnen sind, damit eine transparente Zuordnung zu Veranlagungsverlusten und diversen Kosten sichergestellt ist.
- Rücktritt nach Ablauf des fünften Jahres nach Vertragsabschluss: Hier geht der Gesetzgeber davon aus, dass dem Versicherungsnehmer nur der Rückkaufswert nach § 176 Abs 1 VersVG zustehen soll. Der Versicherungsnehmer wird also gleich behandelt, wie in dem Fall, wo er kündigt. Es spielt also gar keine Rolle mehr, ob der Versicherer falsch belehrt hat oder nicht.
Es war von Anfang an mehr als fraglich, ob diese Gesetzesänderung mit den unionsrechtlichen Vorgaben für die Ausgestaltung der rücktrittsrechtlichen Rahmenbedingungen vereinbar ist. Namhafte Stimmen sahen sowohl das unionsrechtliche Effektivitätsgebot als auch Äquivalenzprinzip verletzt.
Nunmehr hat der Oberste Gerichtshof in einer ersten Entscheidung am 16.02.2022 (7 Ob 185/21p) festgestellt, dass es unionsrechtswidrig ist, wenn bei kapitalbildenden Lebensversicherungen für einen Rücktritt nach Ablauf des fünften Jahres nach Vertragsabschluss und die Kündigung des Vertrages dieselben rechtlichen Wirkungen vorgesehen sind.
Damit wurden den Bedenken vieler Experten Rechnung getragen. Ergibt daher die juristische Prüfung, dass tatsächlich eine fehlerhafte Rücktrittsbelehrung vorliegt, kann die erfolgreiche Anspruchsdurchsetzung für den Versicherungsnehmer wirtschaftlich attraktiv sein.
RA Dr. Oliver Felfernig
Felfernig & Graschitz Rechtsanwalt GmbH